„Probieren wir nochmal den Song von vorhin. Aber diesmal einfach auf E-Gitarre, ist ja eigentlich auch egal.“ Lässig steht sie da, die weiße Gitarre umgebunden, feminin-cool gekleidet, blondierte Augenbrauen, mit nur wenig Anspruch an Perfektion. Der Drummer gibt den Takt an und es folgen schnell ineinander übergehende Akkorde. Eine Ballade über die Schwierigkeiten des Erwachsenwerdens, eben diesmal in elektronischer Version. Zuerst haperte es mit der richtigen Akkordfolge.
Cis-Männliche Dominanz aufbrechen
24 Jahre ist Ilgen-Nur alt, dritte Generation türkischer Gastarbeiter*innen, queer und Indie-Rock-Gitarristin. Dass dies leider noch immer keine Erfolgskombi in der Szene ist, äußert sie laut. In Interviews redet Ilgen-Nur offen über Gender, Politik und Identität. An der Indie-Rock-Szene kritisiert sie die weiße cis-männliche Dominanz: „People of Color fühlen sich da zu selten wohl, weil die Typen immer voll auf Maskulinität setzen.“
Mit Ilgen-Nur erhält die deutsche Rocksphäre eine längst überfällige queere, postmigrantische Perspektive. Sie leistet wichtige Aufklärungsarbeit über Sexismus, Ausgrenzung und strukturellen Rassismus und ist dabei vor allem eins: wütend. „Viele sehen natürlich nicht, dass so ein Gespräch ja nicht einfach eine Talkshow, ein Radiointerview oder ein Zeitungsartikel für mich bleibt. Es ist meine Realität. Es vergeht kein Tag, an dem ich nicht über Sexismus, Rassismus und Homophobie nachdenken muss.“
„Ich mache Musik und der Name steht auf Plakaten. Die Menschen müssen sich ihn nun merken.“
Der musikalische Erfolg stellte sich für Ilgen-Nur mit ihrer Debüt-EP „No Emotions“ und dem darauf zu hörenden Song „Cool“ ein. Mit autobiografischen Texten und lässigen Gitarrenriffs singt sie von Langeweile, Zukunftsängsten und Selbstwert. „Meine Songs helfen mir und der Gedanke, dass sie anderen Menschen auch helfen könnten, macht mich happy.“ Obwohl – oder gerade weil – in der Provinz aufgewachsen, mit Eltern die kein Verständnis für die Berufswünsche ihrer Tochter haben, zieht es Ilgen-Nur erst nach Hamburg, dann nach Berlin. „Wenn man aus einer Arbeiter*innen-Familie kommt, dann ist das einzige, was deine Eltern für dich wollen, ein Job, der dir Sicherheit gibt. Der Musiker*innen-Job ist das halt einfach nicht.“
Ihre Biografie hat zweifellos zu der beigetragen, die sie heute ist. Trotzdem beeinflusst diese nicht unbedingt ihre Texte. Den Fokus verlegt sie auf die Musik und schafft so eine Normalisierung des Bilds der queeren, türkischen Frau mit E-Gitarre. Bewusst wählte sie dabei ihren türkischen Namen als Künstlerinnen-Name. Nie hätten sich Lehrer*innen die Mühe gemacht, sich diesen zu merken oder richtig auszusprechen. „Ich mache Musik und der Name steht auf Plakaten. Die Menschen müssen sich ihn nun merken. Es ist eine Sichtbarkeit da, aber solche Plakate habe ich noch nicht gesehen, als ich Teenagerin war.“
Veränderung durch Sichtbarkeit
Ilgen-Nur ist mittlerweile fester Bestandteil der deutschen Indie-Szene. Noch immer sind es dennoch vor allem weiße Cis-Männer, die die Festival-Line anführen. Trotzdem sieht sie die gewonnene Sichtbarkeit als Chance für Veränderung der deutschen Musikindustrie. „Ich war die ganze Zeit auch voll genervt davon und dachte: „Oha, wann gibt es endlich eine Indie-Rock-Performerin aus Deutschland, die vielleicht auch Migrationshintergrund hat oder queer ist?“ Es gab niemanden. Und ich war so: „Ok, maybe I have to be that person.““ Ein musikalisches Vorbild, das aussah wie sie, hatte Ilgen-Nur nicht. Die Chancen für eine erfolgreiche Musikkarriere standen auch nicht zu ihren Gunsten. Der Weg zur eigenen Identität und damit auch zum Musikerinnen-Dasein war für Ilgen-Nur schwer – ihre Vorbildfunktion möchte sie daher nutzen, um junge Frauen zum Machen ermutigen. „Wenn ich heute mit meiner Gitarre nur drei Teenagerinnen inspiriere, die mir nach dem Konzert sagen, dass sie mich cool finden, habe ich meinen Job schon erledigt.“
Von Selbstbewusstsein und Selbstzweifeln
Medienberichte beschreiben sie immer wieder als gelangweilt oder schlecht gelaunt – mit No Emotions! möchte sie darauf eingehen und setzt auf radical softness. „Es geht darum, positive und negative Gefühle zuzulassen und zu reflektieren und zur eigenen Stärke zu finden. Ich wirke häufig wie too-cool-for-school, habe aber eigentlich voll die weiche Persönlichkeit.“ Um Coolness und auch Unsicherheit geht es auch immer wieder in ihren Texten. „Ich glaube, Menschen die am „coolsten“ sind, benutzten ihre Coolness als Schutzschild. Für mich ist Cool- Sein, nett zu meinen Mitmenschen zu sein. Be kind but take no shit.“
Nicht zuletzt mit „Easy Way Out“ inspiriert Ilgen-Nur, den nicht-einfachen Weg zu gehen, die eigene Comfort-Zone zu verlassen und sich von Hatern und Selbstzweifeln nicht den Weg versperren zu lassen. Mit Verletzlichkeit und Authentizität ebnet sie den Weg für FLINTA* in die weiß-männlich dominierte Musikindustrie. Immer wieder sagt sie den erstarrten Strukturen der Mehrheitsgesellschaft den Kampf an und stellt sich währenddessen gegen etablierte Normen und Erwartungen.
Liselotte Groß
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