Wusstet ihr, dass es in Japan möglich ist, Menstruationsurlaub zu nehmen? Oder, dass sich in Großbritannien die Altersgruppe 55 bis 64 beim Sex am wohlsten in ihrem Körper fühlt? Allerdings fühlen sich auch dort nur 22 von 100 Menschen wohl in ihrer Haut. Diese und viele weitere Zahlen und Fakten haben 27 Autor*innen des Katapult-Verlags für das Buch „100 Karten über Sex“ zusammengetragen. Obwohl der Titel „nur“ Sex erwarten lassen könnte, geht es auf 200 Seiten um Sexualität und Geschlecht und vieles, was damit zu tun hat.
Neben Fun Facts wie Sexrekorden im Tierreich oder Ländern, in denen häufiger Jesus als porn gegoogelt wurde, gibt es einige Seiten, auf denen ihr selber aktiv werden könnt. Zum Beispiel könnt ihr mit euren Freund*innen Bingo mit Sexorten spielen, nach Zahlen malen oder im Fetischlabyrinth Fetische ihren Bedeutungen zuordnen. Zusätzlich zu den humorvollen Seiten werden aber auch viele wichtige und ernste Themen angesprochen und bei Bedarf auch kritisiert.
Das Buch ist auf Recyclingpapier gedruckt, wirkt aber nicht so. Die Farben sind kräftig und die Qualität ist top.
Eine Achterbahnfahrt
Inhaltswarnung: Fehlgeburt, sexualisierte Gewalt als Kriegswaffe
Das Leseerlebnis dieses Buches gleicht einer Achterbahnfahrt. Thematisch geht es hoch und runter: von Tieren, die Gruppensex haben, zu Fehlgeburten, von sexuell konnotierten Bandnamen zu Geschlechtskrankheiten. Es wird bunt und witzig, aber auch historisch und schrecklich. Flaggen der sexuellen Orientierungen und Geschlechtsidentitäten werden von zweideutigen Ortsnamen abgelöst, die Geschichte des Kondoms von sexualisierter Gewalt als Kriegswaffe. Es lädt zum Lachen und Schmunzeln ein, aber auch zum Kopfschütteln und Fragen, zum wütend und neugierig sein – und das alles innerhalb weniger Seiten. Mensch weiß nie, was eine*n auf der nächsten Seite erwartet.
100 Karten über Sex ist kein klassisches Buch, dass mensch auf der Couch von vorne nach hinten liest. Beide Cover in kräftigem Rot fordern eine*n gerade auf, es in die Hand zu nehmen und darin zu blättern – ob von vorne nach hinten oder andersherum ist völlig egal. Vielleicht hat mensch nach einer Seite genug, weil das Thema unangenehm ist, vielleicht kann mensch es aber auch nicht mehr aus der Hand legen. Das Buch gehört in die WG-Küche und griffbereit in den Flur, um es auf die nächste Party mitzunehmen. Es regt zum Austauschen und Diskutieren an, vielleicht auch zum Verlassen der Komfortzone, vor allem aber zum Erweitern des eigenen Horizontes. Wer überrascht werden will, sollte sich diese Achterbahnfahrt nicht entgehen lassen.
Bye to the Gender Binary
Inhaltswarnung: Suizid
Besonders wichtig sind die Erläuterungen zu Aspekten von Geschlecht und Sexualität außerhalb der aktuellen gesellschaftlichen Norm. So leben weltweit so viele intergeschlechtliche Menschen wie rothaarige: 130 Millionen. Wer nie über die eigene Geschlechtsidentität nachgedacht hat, weiß wahrscheinlich nicht, dass die meisten trans Menschen, über 70%, schon in ihrer Kindheit oder Jugend merken, dass sie nicht das ihnen zugewiesene Geschlecht haben. Komisch ist allerdings, dass in dieser Statistik cross-dressing aufgeführt wird als wäre es ein Geschlecht. Dabei handelt es sich um den Ausdruck von Geschlecht mithilfe von Kleidung und nicht um eine Geschlechtsidentität.
Das Buch macht im Vorwort unmissverständlich klar, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt. In einigen Statistiken werden auch Zahlen zu mehr als den zwei binären Standardgeschlechtern gezeigt. Zum Beispiel zeigte eine US-amerikanische Umfrage zu Suizidversuchen bei Jugendlichen eine deutlich erhöhte Selbstmordrate bei trans Jugendlichen im Vergleich zu cis Jugendlichen, wobei nicht-binäre Jugendliche und trans Männer ein höheres Risiko aufwiesen als trans Frauen und Menschen, die (noch) keine passende Bezeichnung für ihr Geschlecht gefunden haben. Gründe dafür werden leider nicht weiter erläutert.
Wie häufig masturbieren nicht-binäre Personen? Datenlage unklar.
Trotz der Awareness für Gendervielfalt beziehen sich leider die meisten der Karten und Statistiken auf Männer und Frauen, was vermutlich der Datenlage zuzuschreiben ist. Das Buch erklärt zwar Begriffe wie Intergeschlechtlichkeit, nicht-binär und trans, kann dann nicht-binäre Menschen aber nicht in Grafiken, zum Beispiel, zur Masturbationshäufigkeit berücksichtigen. Im Begleittext zu zwei Grafiken wird der Begriff trans etwas verwirrend und anders als zum Beispiel im queer-lexikon oder bei stonewall.org verwendet. Im Buch scheint der Begriff trans nur trans Männer und trans Frauen zu umfassen, während die genannten Quellen damit alle Menschen meinen, die nicht das ihnen bei der Geburt zugewiesene Geschlecht haben, also zum Beispiel auch nicht-binäre Personen.
Vulvalippen, Hymen und Genderstern
Inhaltswarnung: weibliche Genitalverstümmelung/FGM
Positiv fällt auf, dass sprachlich auf Inklusion, Diversität und Diskriminierungsfreiheit geachtet wurde: statt Schamlippen wird Vulvalippen verwendet, statt Jungfernhäutchen Hymen. Der Genderstern berücksichtigt sprachlich alle Geschlechter. Da das Buch klarstellt, dass Sexualität und Geschlecht weit mehr sind als Geschlechtsorgane, ist die Vulva auf dem Cover gar nicht so nötig – trotzdem besser als das trillionste Penisbild.
Weiterhin werden viele Themen berücksichtigt, die einer*m vielleicht nicht sofort einfallen, wenn mensch über Sexualität nachdenkt oder redet. In vielen europäischen Ländern wird Menschen mit Behinderung eine Sexualassistenz angeboten, in den Niederlanden, Dänemark und Schweden bezahlt von den Krankenkassen. Wisst ihr an wie vielen Menschen weltweit weibliche Genitalverstümmelung verübt wurde? 200 Millionen! Dabei werden die Vulvalippen und/oder die Klitoriseichel teilweise oder vollständig entfernt.
Eindrucksvoll sind die Weltkarten mit Ländern, in denen Männer und Frauen vollständig gleichgestellt sind (Überraschung! Die Seiten sind komplett weiß.) und in denen keine Männer regieren (Nicht ganz weiß, aber fast!).
Auch wenn es sich um ein Buch über Karten handelt, geht es an einigen Stellen über das Darstellen von Zahlen, Statistiken und Fakten hinaus und es werden Begrifflichkeiten erklärt sowie auf kreative Weise Kritik an den aktuellen gesellschaftlichen Zuständen geübt – zum Beispiel indem gezeigt wird, wie es klingen würde, wenn über Heterosexuelle so gesprochen werden würde wie über homosexuelle Menschen. Es wird außerdem das Werbeverbot für Schwangerschaftsabbrüche kritisiert und bildlich deutlich gemacht, dass es Liebe nicht nur in heterosexuellen Zweierbeziehungen gibt.
Ein Gesprächsöffner
Insgesamt decken die 100 Karten und Statistiken ein breites Spektrum an Themen ab, die mit Geschlecht und Sexualität zusammenhängen. Die Stärke des Buches liegt meiner Meinung nach in der Breite der Themen und einer gelungenen Kombination aus Ernsthaftigkeit und Humor. Während auf einer Seite wichtige Begriffserklärungen zu finden sind, kann sich zwei Seiten weiter über Morbus Kobold oder die Namen deutscher Gynäkolog*innen amüsiert werden. Für Kinder ist das Buch nicht geeignet, da es kein Aufklärungsbuch ist, für ältere Jugendlich kann es durchaus geeignet sein.
Die Leser*innen bekommen schnell einen Überblick über die Themen und werden dazu angeregt, sich weiter mit diesen zu beschäftigen. Aufgrund des Formats kann keines der Themen umfassend behandelt oder Fragen abschließend beantwortet werden, es gibt aber viele Anknüpfungspunkte für weitere Recherchen. Das Buch ist ein niedrigschwelliger Gesprächsöffner, vor Allem für Menschen, die sich bisher noch nicht so viel mit dem bunten Spektrum von Geschlecht und Sexualität beschäftigt haben.
Weitere Bücher und Magazine von Katapult – mit und ohne Karten – findet ihr im Shop des Verlages.
Susann
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