Heute war ich bei einer Kollegin im Büro. In diesem Büro standen zwei Schreibtische einander gegenüber, beide mit einer individuell organisierten Pinnwand dahinter. Beide Pinnwände hatten eine Regenbogenflagge angeheftet. Als ich das Büro wieder verlassen habe und den Flur runter gegangen bin, blickte mir die gleiche Flagge mal größer mal kleiner von einigen Türen entgegen. Die selbe Flagge, die auch von den Fahnenmästen vor den Gebäuden weht.
Allerdings bin ich mir zumindest zu 90 Prozent sicher, dass die Menschen mit den Regenbogenflaggen in diesen Gebäuden alle hetero sind.
DAS DING MIT DER FLAGGE
Auch ich habe an meinem Arbeitsort eine Regenbogenflagge angebracht. Eine ganz kleine, so einen Sticker, den man notfalls auch schnell wieder abmachen kann. Meine Schwester musste mir diesen Sticker geben. Einen eigenen hatte ich nicht. Außer meinem Kollegen vor Ort, mit dem ich mich gut verstehe, weiß niemand, dass ich diesen Sticker dort angebracht habe. Das der Sticker direkt neben meinem Schreibtisch hängt kann ja schließlich auch Zufall sein. Wer will schon so genau wissen, wie lange der schon da ist. Ich war das jedenfalls nicht (wenn jemand fragt).
Ich habe den Sticker angebracht, als niemand hingesehen hat. Andere Dinge mit Regenbogen besitze ich fast nicht. Dieses Jahr habe ich auf dem CSD in Oldenburg einen Button gekauft, einen ganz kleinen, der an so einer großen Person wie mir kaum auffällt. Wenn ich zum CSD gehe, habe ich nie eine Flagge dabei. Meistens kann man von außen nicht mal erkennen, ob ich zur Parade gehe oder einfach nur zufällig in der Stadt unterwegs bin. Wenn die Parade an mir vorbei zieht, marschiere ich nicht mit. Dieses Jahr in Bremen bin ich das erste Mal zumindest ein Stück weit mitgelaufen, weil eine Freundin sich das gewünscht hat. Viele Menschen haben die Parade und mich darin gefilmt. Das war mir unangenehm.
Aber man sieht ja auf den Videos nicht, ob ich queer bin oder nur eine Verbündete, sage ich mir. Den Button hatte ich nicht an.
WIE ANDERE DAS MACHEN
Die gleiche Freundin, die gerne bei der Parade mitlaufen wollte, hat eine Regenbogenflagge in ihrem Fenster hängen. Ich habe sie nie darauf angesprochen, finde das aber ganz schön mutig. Ich würde so etwas nicht bei mir aufhängen. Andere Freund*innen haben ebenfalls auf diverse Art und Weise den Regenbogen in ihrer Wohnung. Doch auch in den Räumen gibt es bei mir nichts. Ist besser so, denke ich, falls mal jemand zu Besuch kommt. Dass eigentlich nur andere queere Menschen und meine Familie hierher kommen, berücksichtige ich nicht.
Bei meiner Familie, also Eltern, Geschwister, Tanten, Onkel und Cousins etc. bin ich geoutet. Aber nicht bei den Großeltern. Ist den Aufwand nicht wert, denke ich, lieber kein großes Ding daraus machen. Seit etwa 10 Jahren operieren wir gemeinsam auf einer strikten „don’t ask don’t tell“ Basis. Wie beim Militär. Bei all meinen Freund*innen bin ich geoutet, und wenn man mich im Gespräch mal kennen lernt, vertraue ich mich auch neuen Menschen oft schnell an. Zumindest, wenn sie mehr tun als oberflächlich zu fragen, ob ich einen Freund habe (mich hat noch nie jemand mit der gleichen natürlichen Lässigkeit gefragt, ob ich eine Freundin habe). Dann lächle ich in mich hinein und belasse es meistens bei einem „nein“.
Meiner Chefin jedoch erzähle ich nichts. Und meinem Betreuer auch nicht, selbst wenn er manchmal indirekt fragt.
GIVE ME A SIGN
In meinem Beruf setze ich mich ein für Feminismus, Diversität und Inklusion. Aber nur bis zu einem gewissen Punkt. Ich sage, dass wir auch auf LGBTQ Menschen achten müssen, aber ich sage es nicht zu oft. Wenn ich etwas veröffentliche, ist es eher feministisch. Wenn doch etwas Queeres darin vorkommt (und das tut es, meistens), dann ist es eine Randbemerkung. In meiner Freizeit schreibe ich eine queere Kolumne (du liest sie gerade), aber anonym. Ich wusste nicht, was das sonst für Auswirkungen auf mein (Berufs-) Leben hat.
Mir ist noch nie etwas Homophobes passiert. Zumindest nichts Offensichtliches, so wie ein Schlag ins Gesicht. Warum muss ich mir dann solche Gedanken machen? Sicher gab es ab und an mal irgendwo einen Kommentar, aber wenn, dann ist das so lange her, dass ich schon gar nichts mehr davon weiß. Die Welt um mich ist voller Regenbögen. Warum fühle ich mich dann nicht sicher?
Vielleicht, weil es täglich in den Nachrichten ist. Vielleicht, weil ich weiß, dass ich mich in einer Bubble bewege, und dass nicht alle in Deutschland so tolerant sind wie die Menschen um mich herum. Weil ich weiß, dass Deutschland ein fortschrittliches Land ist, auch wenn es nicht perfekt ist – aber Deutschland ist nur ein Land von vielen auf der Welt. Weil es so etwas gibt wie Websites für queere Menschen, die reisen wollen, damit wir nur dorthin reisen, wo es sicher für uns ist. Die ersten Länder auf der Liste leuchten dunkelrot. Todesstrafe. Todesstrafe. Todesstrafe. Dann: 20 Jahre Haft mit schwerer Arbeit. Dann ein moderates Urteil: 10 Jahre Haft. Vielleicht treffe ich vor Ort ja Brittney Griner.
Meine Mutter sagt, dass man ja auch als Frau nicht überall gut hinreisen kann. Ich sage, das ist als queere Frau nochmal etwas anderes.
ARTIKEL OHNE BOTSCHAFT
Dieser Artikel hat keine Botschaft, und eigentlich auch keine Struktur. Ich habe bestimmt ganz viel vergessen. Die anderen zehntausend Kleinigkeiten, die meinen Alltag strukturieren.
Ich denke nicht, dass ich unbedingt der queere Standard bin, und das ist gut so. Es braucht die Menschen, die mit Regenbogenflagge auf die Straße gehen. Menschen, die Regenbogensticker an jede Ampel kleben. Die sie in ihren Fenstern und Zuhause hängen haben.
Ich freue mich über die Heteros, die Regenbogenflaggen in ihren Büros und an den Türen anbringen. Weil sie es können. Weil sie nicht in Gefahr sind. Weil sie auch mir damit symbolisieren: „Hier ist ein sicherer Platz für dich“.
Oft denke ich an eine Geschichte mit einer Regenbogenflagge zurück. Ein lesbisches Paar auf einem Roadtrip durch die USA, das durch mehrere Staaten gefahren ist. In ihrem Heimatstaat haben sie sich immer wohl gefühlt. In einem anderen Staat dann irgendwann nicht mehr. In einer unbekannten Stadt wurden sie verfolgt, weil sie als Paar erkennbar waren. In einer unbekannten Stadt wussten sie nicht wohin, während die Gefahr immer näher kam. Bis sie an irgendeiner Ecke ein Restaurant mit Regenbogenflagge entdeckten. Sie flüchteten hinein und konnten den Verfolgern somit entkommen. Die Flagge ließ sie wissen, dass sie an diesem Ort sicher waren.
Jack
Hannah meint
VIELEN DANK für diesen Artikel, ich war beim Lesen wirklich zu Tränen gerührt! Die widersprüchlichen, merkwürdigen Gefühle kann ich sehr gut nachvollziehen, vor allem in ‚öffentlichen‘ Situationen geht es mir oft ähnlich – so habe ich zum Beispiel mehrere Regenbogen/Queer Ketten die ich gerne trage, die ich aber nie auf der Arbeit trage, aus Sorge, mich zur Zielscheibe zu machen. Das eine Mal, als ich eine relativ unauffällige Kette mit Regenbogen trug wurde ich tatsächlich sofort darauf angesprochen und in dem Moment war es zum Glück eine Gleichgesinnte, es hätte aber auch genauso gut der Nazi-Kunde aus der Woche davor oder die alte Dame, die Gleichgeschlechtliche Ehe nicht als richtige Ehe ansieht sein können – und von solchen Leuten möchte ich nicht als „bunt“ erkannt werden, vor allem nicht in einer professionellen Situation, in der ich nicht einfach zuschlagen oder weglaufen kann. Die Frage, wie viel Auffälligkeit für mich angenehm (oder sicher) ist, bleibt in ständigem Wandel – sicher ist nur, dass es immer schön ist, nicht allein zu sein.